Ist der Begriff „Migrationshintergrund noch zeitgemäß?“ 2005 führte das Statistische Bundesamt den Migrationshintergrund ein. Die einen sagen, er mache Integrationsprozesse sichtbar, wobei die anderen meinen, er schließe Menschen aus. Am 27.04.2021 diskutierte ich die Chancen und Herausforderungen der Bezeichnung “Migrationshintergrundes”, dessen positiven oder auch negativen Eigenschafften und Assoziationen in einer großen Online-Veranstaltung.
Migrationshintergrund: Abschaffen!?
…. lautete die etwas zugespitzte Eingangsfrage.
Seit Beginn 2021 steht die Frage im Raum, ob der Begriff des Migrationshintergrundes immer noch die richtige Beschreibung für Zugewanderte und Kindern von Zugewanderten ist.
Prof. Krassimir Stojanov, Lehrstuhl für Bildungsphilosophie und Systematische Pädagogik der Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Herr Prof. Stojanov von der Universität Eichstätt-Ingolstadt skizzierte vier Problematiken des „Migrationshintergrundes“, wie z.B., dass Menschen anhand ihrer ethnischen Abstammung gruppiert werden, was die Herkunft zu einem politisch und institutionell relevanten Merkmal macht. Die zweite Problematik ist die der Zuschreibung eines kollektiven Defizitmerkmals, in der Schüler*innen als „Sündenböcke“ für das schlechte Abschneiden Deutschlands in internationalen Bildungsvergleichsstudien hergehalten werden. Dies zeigt eine Ignoranz gegenüber der Heterogenität der „Menschen mit Migrationshintergrund“, in der 16% der Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu den leistungsstärksten Schüler*innen gehören, sie jedoch in der PISA-Studie mit Einberechnung des sozioökonomischen Status 17 Punkte hinterherhinken. Beim dritten Punkt wurde die institutionelle Diskriminierung angesprochen, in der selbst der Begriff des Migrationshintergrundes als solche gilt und dadurch Kinder aus Einwandererfamilien beim Übertritt auf eine weiterführende Schule aufgrund ihres Hintergrundes niedriger eingestuft werden. Der letzte Punkt zeigte die Determinierung der Jugendlichen durch ihre Herkunft, durch die viele Kinder und Jugendliche besonders betroffen sind und denen durch die fehlende Anerkennung die Voraussetzung für Bildungsmotivation und -erfolg weggerissen wird.
Nesrin Gül, Stellv. Vorsitzende des Dachverbandes der Kommunalen Integrationsbeiräte in Bayern,
Die nächste Referentin Nesrin Gül, stellv. Vorsitzende des Dachverbandes der Kommunalen Integrationsbeiräte in Bayern, hat den starken Integrationsdrang der dritten Generation in Deutschland betont, die einerseits stark darauf bedacht sind, dazuzugehören, andererseits auch stolz auf ihren kulturellen Hintergrund sind und das auch gerne zeigen. Die Migration ist bei jungen Erwachsenen nicht mehr so stark negativ konnotiert, wie es damals war. Dies zeigt, dass der Begriff sich stets verändert und hybrid ist. Bei der Kriminalität hat man damals die Nationalität direkt angesprochen, dann kam der Begriff „Migrationshintergrund“ und jetzt wird eher angegeben, dass die Person einen deutschen Pass hat (aber eigentlich gar nicht deutsch ist, um die Migration zu betonen). Man will einen Begriff, der nicht stigmatisiert, der dafür aber trotzdem Strukturen festhält und deutlich macht. Man wünscht sich, dass es gar keinen Begriff dafür gäbe und Menschen akzeptieren könnten, dass man in einer pluralen, vielfältigen Gesellschaft lebt, wo Personen, die in dem Land wohnen, auch politisch mitbestimmen dürfen und aktiv werden können. Diese Chancengleichheit, die uns auch das Grundgesetz vorgibt, muss jedoch lange erarbeitet werden und in den Köpfen der Menschen ankommen.
Dr. Miriam Heigl , Leitung der Fachstelle für Demokratie der Landeshauptstadt München
Miriam Heigl, Leitung der Fachstelle für Demokratie der Landeshauptstadt München war die dritte Referentin und hat die Frage beantwortet, ob der Begriff „Migrationshintergrund“ noch up-to-date ist. Der Begriff hat sich seit der Einführung 2005 von einem unbelasteten Begriff zu einem Begriff mit negativer Konnotation entwickelt. Von Generation zu Generation wird der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund immer mehr, jedoch von Rassismus sind auch Menschen ohne Migrationshintergrund, wie z.B. Sinti und Roma, betroffen. Der Begriff ist zu einer Integrationshemmnis geworden, er schließt Menschen aus, die sich schon als Teil der Mehrheitsgesellschaft wahrnehmen. Integrationsangebote werden automatisch nach Statistik gemacht und bieten sie Menschen an, die schon integriert sind. Dadurch wird das Signal gegeben, dass man nicht dazugehört und noch Integrationsbedarf herrscht.
„Wenn wir wegkommen wollen vom Migrationshintergrund, muss man ihn öfter weglassen“
In der anschließenden Diskussion mit den Teilnehmer*innen ging es zum einen um die Quotierung gerade im Bereich der Politik. Im bayerischen Landtag sitzen derzeit nur drei Menschen mit Migrationshintergrund und im Stadtrat sind es auch unter fünf. Als marginalisierte Gruppe möchte man repräsentiert werden und eine Vertretung haben, da das zurzeit nicht der Fall ist, fand die Diskussion eine Quote für sinnvoll. Im Moment ist so eine Maßnahme nötig, die Teilnehmer*innen waren sich jedoch sicher, dass das in Zukunft nicht mehr gebraucht wird, da es bis dahin selbstverständlich sein soll. Weiterhin wurde angesprochen, dass die Akzeptanz und Selbstverständlichkeit in der Gesellschaft fehlen. Die Teilnehmer*innen waren sich einig, dass zu sehr die Herkunft im Vordergrund steht. Es müsste viel mehr darum gehen, den Rassismus abzubauen. Die Bedarfe werden nicht genug ernstgenommen.
Ein weiterer Vorschlag war, die kanadische Bezeichnung für Einwanderer*innen und deren Nachkommen zu übernehmen. Aus second-generation-Canadian wird zweite Generation Münchner/Deutscher. Dieser Vorschlag kam, da man eine Kategorisierung braucht und sichtbar machen will, wer von Diskriminierung und Hass betroffen ist. Einig waren wir uns in dem Aspekt, dass auch bei einer Wortänderung der Begriff missbraucht und negativ aufgeladen werden könnte und deswegen den „Migrationshintergrund“, wenn wir von ihm wegkommen wollen, öfter weglassen müssen.
„Sprache ist Bewusstsein, Bewusstsein ist Sprache“